Samstag, 24. November 2007

Philantropia

Geschrieben von sjAlfur unter sjAUDIO

So... jetzt Sigur Rós. Die Retter meines Universums, sie sind wieder da! Zwar nicht wirklich mit neuen Liedern, aber dafür mit alten. Und mit sehr vielen Bildern, die sie um diese Lieder herum zeichnen. Im Vergleich der Doppel-EP "hvarf/heim" gegenüber dem Film "heima" habe ich versucht, meine eigene Einschätzung der Band zu hinterfragen. Der Film ist sicher grandios, es ist etwas neues, etwas überwältigendes... die Doppel-EP ist - nüchtern betrachtet - ein Ansammlung älterer Lieder in bedingt neuem Gewand. Höre ich die Lieder der EPs ohne den Film zu sehen, wirken sie dann auch?
Ich muss dazu sagen: Ich habe die "heima"-Ausgabe mit zwei DVDs. Und auch erst seit gestern. Den eigentlichen "heima"-Film habe ich noch nicht gesehen. Aber die Bonus-DVD mit 22... Clips. Das sind nicht zwangsweise Live-Mitschnitte... aber egal, dazu später. Erstmal die EPs:


"hvarf"
...laut Aufkleber, der sich nicht vom Digipak kratzen lässt: "5 New Electronic Recordings". Das "New" bedeutet soviel wie "bislang noch nicht käuflich zu erwerben". Denn "Salka" stammt von 2002, das steht auch direkt auf der CD, und damit ist das Stück das neueste der fünf Lieder. "Í Gær" ist zwei Jahre älter, auch "Hjlómalind" ist keine absolute Neuheit, und "Von" und "Hafsól" kennt man in anderer Ausführung bereits vom Debut "Von". Lase ich mal meine ganze Euphorie für Sigur Rós weg (was mir nicht ganz gelingt, zugegeben), stelle ich mir die Frage: Braucht man neue Aufnahmen alter Lieder?

SALKA
In dem Fall ist die Antwort einfach: Ja. Salka ist vorher noch nie als Studioversion veröffentlicht worden, gehörte aber zu den Liedern, auf die ich schon beim ersten Durchlesen der "Takk..."-Tracklist gewartet habe. Damals vergeblich. Heute bin ich sogar froh darüber, denn die Art und Weise, wie sich das Lied in eine eigene Atmosphäre aufschwingt und in sich selbst abschließt, hätte der "Takk..." nicht unbedingt gut getan. Auf den ersten Blick scheint das Lied dabei gar nicht so besonders anders, aber während Lieder ähnlichen Ausmaßes auf der "Takk..." im Stile von "Mílanó" oder "Sé Lest" wie große, rauschartige Kapitel in einem Album wirkten, klingt Salka eher nach einer eigenen kleinen Geschichte, die ihren Platz in einem kleinen Sammelband findet, nie aber im großen Epos...

HLJÓMALIND
Wenn "Salka" wie eine kleine Geschichte wirkt, dann ist "Hljómalind" ein Gedicht. Das bezieht sich weniger auf die Länge, auch wenn "Hjlómalind" das kürzeste Lied auf "hvarf" ist, sondern vielmehr auf den Liedcharakter. Der gegliederte Aufbau, der für Sigur Rós fast ungewohnt klare Strukturverlauf... Zudem dürfte das Songtempo hier wesentlich höher liegen als bei den meisten anderen Stücken, die Gitarren klingen stellenweise fast nach Alternative Rock, ebenso das Schlagzeug (nur mit ca. viermal soviel Blech...). Die Harmonie des Liedes ist warm und direkt, präzise fast, erinnert mich manchmal an "Olsen, Olsen" oder "Svo Hljótt" in schneller.
"Hjlómalind" ist das Lied auf der EP, das etwas rausfällt. Währen die anderen Lieder Wellenberge über die weiten Wasserflächen jagen, dann zerschellen sie hier am schroffen Felsen...

Í GÆR
Und "Í Gær" ist dann wieder zurück in den weiten Wellentälern unseres Geschichtsbands, erzählt von dem leisen, plätschernden Glockenspiel, dass durch den aufbrausenden Orkan direkt ins skurille Innere des Sturms geschickt wird. Auch "Í Gær" braucht die Abgeschlossenheit. Es muss die Geschichte vom Sturm in der Ruhe beginnen und in der Ruhe abschließen. Was dazwischen passiert, ist eh kaum überschaubar...

VON + HAFSÓL
Die beiden Neuauflage des Debut-Albums haben etwa die Entwicklung hinter sich, die den Bogen vom albumdienlichen Lied zur eigenen kleinen Novelle spannt. Während "Hafsól" so aufgenommen ist, wie die Band es seit langem schon live spielt, und es somit kaum noch dem eher sphärischen Ambient-Stück der Debut-Version entspricht, hat sich "Von" vor allem klanglich entwickelt...

Dazu passend kann man sich auch die ganze "heim" EP anhören. Mit "Samskeyti", "Starálfur", "Vaka", "Ágætis Byrjun", "Heysátan" und (nochmal) "Von" sind auf der zweiten EP nur bereits veröffentlichte Lieder. Hier als live-Akustik-Versionen. Und an der Stelle lässt sich vielleicht die einzige Schwachstelle des ganzen finden. Wenn man es denn als Schwachstelle sehen will. Die Lieder sind anders als ihre Originalaufnahmen, aber man hört es ihnen unterbewusst kaum an. Das liegt wohl hauptsächlich daran, dass Sigur Rós einen doch sehr eigenen, speziellen Klang haben, den ihre Lieder nicht so einfach abschütteln können. Hört man bewusst diese Akustikversionen, fallen einem viele Details auf, für die sich die Umsetzung gelohnt hat, aber für denjenigen, der nur eines der regulären Alben hat, wird sich ein anderes Album eher lohnen als diese EP-Kombination.


Allerdings - der aufmerksame Leser wird das gemerkt haben - ist mein Versuch, Musik und Bild zu trennen, bereits fehlgeschlagen. Ohne "heima" gesehen zu haben, die Tatsache, dass diese visuelle Seite existiert, lässt die Musik kaum ohne sie leben. Und selbst wenn man diese Musik nur als mp3s ohne jedes Artwork etc. kennt, zeichnet sie die Bilder eben selber. Das gilt für Musik sehr häufig, bei Sigur Rós ist das sehr ausgeprägt.
Und schon die Clips der Bonus-DVD von "heima" zeigen auch, warum. Es sind natürlich einerseits die Live-Aufnahmen, die während der "heima"-Tour entstanden sind, und die für jeden Ort ein anderes Bild zeichnen, die Verbindung von dem Auftritt der Band mit den Leuten, die dort beheimatet sind... In Ísafjördur kommt im zweiten Teil von "Sé Lest", das bis dahin so wirkt, als wäre es irgendein beliebiger Mitschnitt aus einem kleinen Club, eine Marschkapelle aus dem Ort auf die Bühne, spielt den Bläserpart, marschiert von der Bühne durch das Publikum und (scheinbar) aus der Halle. Während die Band das Lied auf der Bühne zu Ende bringt, sieht man die Blaskapelle ihren Part weiterspielend auf der Straße aus dem Ort marschieren. Vermutlich ist jeder in der Kapelle, der dort genug Atem hat um ein Blasinstrument zu spielen. Das Übungspotenzial für eine musikalisch perfekte Aufnahme ist sicher groß, doch die aus dem Bild marschierenden Hobbymusiker machen die Aufnahmen auf ihre Weise authentisch, auch wenn gar nicht erst versucht wurde zu überspielen, dass diese natürlich nicht direkt von der Bühne raus in die Landschaft der Westfjorde marschieren...
In Bildadalur wird es skuriller. Auf den ersten Blick zumindest. Man sieht Jónsi und Kjartan, die mit einem älteren Mann sprechen, der in seinem Haus ein kleines Musikmuseum besitzt. Darin zeigt er stolz einen Hut im Stile von Bing Crosby, den der vielleicht bei einem seiner Auftritte mal aufgehabt haben könnte... und weitere Fundstücke... Ein Freund von ihm ist offenbar ein bekannter isländischer Sänger, von dem er dann den etwas hilflos dastehenden Sigur Rós-Mitgliedern ein Lied vorsingt... So etwas wirkt verschroben, im ersten Moment. Doch wer schonmal in einem der kleinen Museen an der dänischen Jütlandküste war, der weiß, dass man für so etwas nicht nach Island fahren muss. Und wenn man sich seine eigene Umgebung nur mal näher ansieht, sieht man vielleicht auch, dass es weniger ungewöhnlich ist, dass es diese alltäglichen Eigenarten von Menschen gibt, sondern eher schon, dass sie in einem solchen Film gezeigt werden.
"heima" vermischt Musikvideo mit Dokumentarfilm, Tour-Tagebuch mit bewegter Landschaftsfotografie, und so trifft man eben neben wunderschön inszenierten Live-Versionen (z.B. "Vaka" in Álafoss) auch auf eine Art Dorfgemeinschaftsabend in Kirkjubæjarklaustur, bei dem neben Buffet und langen Festtischen auch Sigur Rós mit Steindór Andersson ihre Version isländischer Folklore auf der Bühne präsentieren, aber auch - rechts am Rand und nicht immer textsicher - einige der Lieder des Gemeindechors mitsingen...

Und wenn man darüber auch nur fünf Minuten nachdenkt, kommt einem sowas wie der Artikel über Sigur Rós in der neuesten Visions (stellvertretend für so vieles, was die Musikpresse über Sigur Rós [oder isländische Bands im Ganzen] schreibt) wie schlechtes Herumphilosophieren vor. Neben einem (ganz netten, weil kaum Redeanteile des Fragestellers) Interview mit Jónsi folgt eine kurze Betrachtung von "heima", die sich ungefähr so zusammenfassen lässt: "Voll verzaubertes Land, ganz strange Leute da, alle ein bisschen einen an der Waffel, aber als solches ja sehr genialistisch, totale Verbundenheit zu diesem feengleichen Land..." und so weiter. Richtig schlecht wurde mir aber - auch wenn dieses Ende bei einem Artikel über die Band längst keine Überraschung mehr ist - als der Autor nach der Aussage Jónsis, dass er eine Stunde zu spät zum Interview kam, weil er die Nacht durchgesoffen hat, feststellt, dass diese Band ja doch so total bodenständig und ganz normal ist. Ach was, sag nicht sowas... Wenn er vorher wirklich anderes geglaubt hat, dann hätte ihn doch der Visions-Artikel zur "Takk..." darüber aufklären müssen. Oder der davor... oder der davor...

Dass einen die Musik von Sigur Rós emotional so mitnehmen kann, dass man geistig für den Augenblick abdreht, ist mir durchaus bewusst, aber wenn ich versuche, einen Artikel zu schreiben, dann besinne ich mich mal auf das, was es wirklich ist: Einmalige Musik, aber eine Band aus Menschen, die so einzigartig sind, wie jeder andere auch. Und ebenso wie die Band, sollte man auch nicht Island als solches zum mythischen Sinnbild einer höheren Geistigkeit machen. Sowas ist dumm. Sowas tut weh beim Lesen.

Und wenn man in einem Artikel auf die emotionale Bedeutung der Musik/Bilder in Verbindung mit Menschen hinweisen will, warum immer auf die Herkunft und irgendwelche zusammengedichteten Klischees verweisen? Warum nichtmal die naheliegendste Verbindung betrachten: Die Schönheit der Menschen an sich? Aber klar, das passt ja schlecht in ein Szenemagazin, was sich auf der multimedialen Welle von Katastrophenzynismus bewegt. Wie soll man denn in unserem Land Menschen schön finden, wenn man auf dem Nachhauseweg aus der Redaktion am Kiosk an der Ecke vorbeikommt und die Gebrüder Stammtisch über BILD-Meldungen reden hört... Dass der Typ mit seinem Museum evtl. ein tierischer Nervbolzen seinen Nachbarn gegenüber sein könnte, sowas wird gerne vergessen. Obwohl der Filmausschnitt diese Möglichkeit durchaus als naheliegend hinstellt...

Entweder Musikjournalismus befasst sich mit der Musik. Oder er weitet sich auf die sozialen Strukturen und Ansichten aus, dann aber bitte nicht auf dem Niveau alter Völkerschauen...


Naja. Über die Musikpresse kann ich mich lange auslassen. Wie gut, dass ich plane, selbst Teil davon zu werden...


So, wer bis hierhin gelesen hat und noch einen Tipp erwartet: Wer Sigur Rós mag und die Alben hat, sollte auch die EPs nicht unbeachtet lassen, wer nur hin und wieder Fan ist, der sollte sich aber zumindest die Anschaffung des Films überlegen... Es lohnt sich. Achtet aber darauf, dass ihr die Version mit Bonus-DVD habt (nicht unbedingt die Limited Edition, die ist nur aufwändiger gestaltet und teurer), denn die Bonus-Clips zu verpassen (dürften insgesamt auch etwa um die 80 bis 100 Minuten sein, der Hauptfilm ist 96 Minuten lang) wäre sehr schade...


Keep on rockin' your Gemeindehaus!


.x... sjÁlfur

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AiHua - 26. November, 00:29

schön

Denk nur an die kleinen Museen rund um Schneverdingen...

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