Freitag, 16. November 2007

Fear and Loathing in SVD

Geschrieben von sjAlfur unter 2046

"...du mich auch Alter!"
Sie saßen am Wohnzimmertisch und tranken. Es kam nicht mehr darauf an, was sie tranken. Sie hatten in den letzten Stunden alles halbwegs flüssige durcheinander getrunken, und während die ersten Partyopfer nüchtern mit hämmerndem Echo im Kopf nach Hause zogen und die jüngsten Gefallenen geräuschvoll in die Duschkabine kotzten, diskutierten sie über die Wette mit dem Sekt. Und dem Aspirin. Drei Flaschen Sekt standen dort. In eine war am Anfang des Abends, als die Dinge noch bunt und lustig schienen, eine Tablette Aspirin gebröselt worden. Das sollte ja verheerende Wirkungen haben. Hatten sie gehört...
Nun wurde gewettet. Sechs Leute. Immer zwei eine Flasche. Wer die mit dem Aspirin erwischt, hat Pech gehabt. Die anderen steigern ihren Promillewert nur noch um einige unbedeutende Punkte. Draußen schlief ein einzelner auf der Terasse in der Kälte. Direkt neben dem Plakat von Angela Merkel, dass sie auf dem Rückweg vom Dönerladen von einer Laterne gerupft hatten, und das auf der Terasse Opfer von Frostschutzmittel, Flammen, Urin und Tesatz, der nach Erbrochenem aussah, geworden war.
Die sechs am Tisch sahen zu den Sektflaschen. Einer rollte die Reste seines mittlerweile kalten Döners aus der Alufolie und garnierte diesen mit Gummibärchen. Sein Gegenüber sah das und beschloss, auf die Sektwette zu verzichten. Er stand auf und machte sich auf den mühsamen Weg, die Treppe nach oben zum zweiten, noch saubereren Badezimmer. Die vom Schnee und nicht näher identifizierbaren Flüssigkeiten durchweichten Antifa-Flugblätter eines weiteren Insassen der Sektwette waren quer über die Treppe verstreut. Das Bad oben war tatsächlich weitestgehend sauber.
Als er wieder ins Wohnzimmer kam, war die Sektwette erledigt. Drei der ehemals sechs am Tisch sitzenden hatten jeder eine Flasche genommen und nach wenigen Schlucken große Champagnerdusche in der Küche nachgespielt. Ein weiterer Ort, der in dieser Nacht gemieden werden wollte. Der Typ mit dem Gummibärchendöner saß zufrieden in einer Ecke und verfolgte mit müden Augen orientierungslos die Fische im Aquarium, die den Abend irgendwie überlebt hatten.
Der Antifa-Flugblattverteiler nahm ihm die qualmende Schabe aus der Hand und nahm einen Zug. Er war gegen Alkohol. Aus gesundheitlichen Gründen. Der letzte verbliebene, der gerade aus dem ersten Stock - einer scheinbar noch heilen Welt jenseits vom Elend der ausklingenden Party einer orientierungslosen Jugend aus der Mitte des Nichts - heruntergekommen war, teilte einige letzte Züge mit dem Antifa-Flugblattverteiler. Ein Ellbogen in die Seite des Typen mit dem Gummibärchendöner.
"Ey! [][][], lass ma gehen!"
Der Antifa-Flugblattverteiler nickte und drückte den J in den nächsten Blumentopf. Zusammen schleppen sie das Döneropfer an die Winterluft. Dann machten sie sich auf den Weg. Dreieinhalb Kilometer zu Fuß. Der Antifa-Flugblattverteiler verabschiedete sich auf halbem Weg. Sein Fahrrad stand am Rathaus. Er hatte nicht getrunken, er konnte noch fahren...
Die anderen beiden gingen wortlos in die Nacht. Irgendwann sah der mit dem Döner auf: "Ich merk den Fressflash jetzt!"
"Du hattest grad nen Döner!" ein Blick auf die Uhr, "naja, vor zwei Stunden..."
"Lass mal zu mir, wir haben Pizza."
Gegen halb sieben morgens war die Pizza dann fertig. Sie saßen in der Küche und wunderten sich über ihre eigene Nüchternheit.
"Wann gehen wir zu {}{}{} zum Aufräumen?"
"Glaubst du, da lässt sich vor Abend aufräumen?"
"Sind wir vorher wach?"


--- Die Antwort war "Nein."
Wir hatten ganze drei Stunden, das halbe Haus mit sieben Leuten in Ordnung zu bringen, von denen drei besser nicht gekommen wären, da sie das Chaos eigentlich nur noch schlimmer machte. Als die Eltern von {}{}{} klingelten, schaukelte gerade das letzte Bild an der Wand, dass wir vor der Party klugerweise abgenommen hatten. Eine halbe Stunde waren wir damit beschäftigt mit allen sieben Leuten zu diskutieren, wie denn der Marmor-Tisch, den wir ebenfalls vorher sicherheitshalber in einer Abstellkammer verstaut hatten, vorher stand. Der Tisch ist asymmetrisch, es wäre durchaus aufgefallen, wenn der plötzlich andersrum stehen würde...
Später haben wir dann erfahren, dass der Tisch tatsächlich am richtigen Platz war, auch die Bilder an den Wänden hingen gerade, nur... leider hatten wir sie teilweise vertauscht... Das war nicht so schön...

Es ist irgendwie erschreckend, dass man sich nach zehn Jahren noch an so etwas erinnert und tief im Inneren immer noch Kopfschmerzen bekommt... Aber wenn wir irgendwan mal ganz groß rauskommen, als Band, dann kann ich sagen, ich hatte das Klischee-Rock'n'Roll-Leben eben schon mit 15. Nur ohne Nutten.

Allerdings fallen solche Erinnerungen leichter, wenn man von einem alten Weggefährten dieser Tage erfährt, dass er mittlerweile aus einem jahrelangen Drogen- und Persönlichkeitsstörungsexzess erwacht ist und sein Leben bestens zu meistern scheint... Der Kontakt ist zwar seit Ewigkeiten gerissen, aber das Überleben ist, was zählt. Zumindest wenn man seine Jugend am Arsch der Welt verbringt...


[PS: Nein, ich war nicht der, mit den Gummibärchen im Döner. Ich habe meinen Döner normal gegessen, weil ich mir vorher schon den Magen damit verdorben habe, dass ich Lakritzschnecken in Cola-Vodka auflösen wollte... hm-hm-hm macht Kinder froh... ne?]


.x... sjÁlfur

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erphschwester (Gast) - 16. November, 13:43

seeehr ...

... schöne geschichte!

und jetzt erinnere ich mich auch wieder, warum ich irgendwann aufgehört habe, diese ausschweifenden partys zu geben, die sicherlich großen spaß gemacht haben. das muß wohl an dem punkt gewesen sein, wo ich meine möbel nicht mehr von sperrmüll hatte, sondern inzwischen richtig geld dafür ausgegeben.

sjAlfur - 16. November, 13:49

da das eine meiner ersten richtigen partys war, habe ich es vorgezogen, das ausufernde leben schrittweise zurückzufahren...
AiHua - 16. November, 15:39

Hoffe, Deine Kinder haben ebenso gedacht wie Du, so dass sie vielleicht wie sjÁlfur und Konsorten die Sachen wohlweislich weggeräumt haben. Haben wir übrigens auch getan, ganz ohne dass wir uns so besoffen haben, dass man danach die Badezimmer nicht mehr erkennen konnte...
To01 - 16. November, 14:07

*lach* da wär ich gern mit beigewesen.

sjAlfur - 16. November, 15:26

vielleicht warst du dabei, nur wir beide wissen es nicht mehr... würde mich nicht so besonders wundern...
erphschwester (Gast) - 16. November, 18:39

@Aihua: meine tochter mag wohl solche feten gehabt haben, aber - zum glück! - nicht bei mir. sie wohnte schon mit siebzehn in einer WG. und ich bin froh drum, denn eines tages nach so einer fete kam die ganze WG mit geschorenem schädel daher. meinem schaf-fell-bettvorleger wäre das nicht so gut bekommen. ;)
mein sohn hingegen lebt, um es vorsichtig zu sagen, sehr viel ruhiger als ich seinerzeit. ich fürchte, er verpaßt eine menge dinge, an die er im alter denken könnte.

sjAlfur - 16. November, 19:30

allerdings... ich habe lange auch gedacht, ich hätte eine viel zu ruhige jugend gehabt. bis ich mich wieder erinnert habe... ich weiß nicht, ob man das unbedingt in dem moment braucht, in dem man es erlebt. aber als erinnerung ist das unter umständen schon wertvoll...
AiHua - 16. November, 19:49

So einen Bettleger hatter ich auch, allerdings war ich da noch ganz fern von Feten. Den hat mir mein Vater geschenkt, damit ich es weicher habe, weil ich in der Zeit sehr häufig aus dem Bett gefallen bin.
erphschwester (Gast) - 16. November, 20:21

@sjAlfur: der witz an der sache i s t ja, daß man in diesem alter gar überhaupt nicht überlegt, ob man etwas braucht oder was zu tun richtig oder gut ist. man macht die dinge, weil man "bock" drauf hat und läßt alles kommen, einschließlich mancher katastrophe, die man hernach entdeckt.
vielleicht ist es ja in der hauptsache das, was einem später die erinnerung so wertvoll macht. hätte man diese erinnerungen nicht, müßte man annehmen, man wäre immer schon so vernünftig, langweilig und wenig kreativ gewesen, wie man es als "erwachsener" mensch, der funktioniert, eben häufig zwangsläufig ist.

@Aihua: auch menschen, die nicht mehr aus dem bett fallen, wissen den taktilen reiz von fell (anstelle eines eiskalten bodens) durchaus zu schätzen, wenn sie aus dem warmen bett steigen.:)

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