Mittwoch, 19. März 2008

Melodien auf der Hochspannungsleitung

Geschrieben von sjAlfur unter sjAUDIO

"Aerosol" - .kinetic...
CD-Rezension vom März 2058

Da sind also gute fünfzig Jahre vergangen, bis nach der wenig beachteten Veröffentlichung des Erstlingswerkes "Anamnesia" ein neues Album des ewigen Quintetts-in-spe. Viel verändert hat sich am Sound der Band nicht, zumindest auf die fünfzig Jahre hochgerechnet, denn während der Post-Post-Post-Post-Post-Post-Post-Post-Rock bereits seit einigen Jahren eine etablierte Größe ist, sind .kinetic... noch immer kurz vorm ersten "Post-" stehengeblieben. Jedoch ist deutlich zu spüren, dass die Kompositionen über die Jahrzehnte, die sich das Album in Arbeit befand, immer weiter ausgeufert sind. Gar nicht verändert hat sich hingegen das Auftreten des mittlerweile am kollektiven Rheuma leidenden Trios. Noch immer liest man unter ".kinetic... are..." die Nicknames sjÁlfur, PileOfHate und dead.pilot, was mindestens seit Mitte der Zwanziger komplett uncool ist.

Die Tracks in der Einzelkritik:

"the kremlin king"
Der Opener setzt dort an, wo "Anamnesia" aufhörte, eigenartige Loops aus Stuhllehnen und Nagelfeilen zusammengezimmert, ein Liedaufbau, der sofort mehr Pathos verheißt, als er halten kann, dazu der in ungewohnt hoher Stimmlage vorgetragene Text, der sich grob an Jahrzehnte alten Schlagzeilen aufhängt. Eine Neuerung hört man jedoch sofort: .kinetic... verwenden das Klavier. Weniger neu ist der Liedaufbau, der sich von Teil zu Teil vorarbeitet und wenig Wert auf Refrain oder Strophe legt. In gut drei Minuten lamentiert "the kremlin king" über die Bosheit der Welt, baut daraus eine Spannung, die am Ende in einem wilden Massaker aus Schlagzeugsamples untergeht.

"walking ghost"

Das Klangchaos am Ende des Openers ist gerade verklungen, da rumpelt auch schon "walking ghost" los, ein anfangs erneut vom Klavier getragenes Stück, dass sich in eigenartigen Triolenrhytmen durch Strophen und Refrains zieht, bis das aus mehreren nebeneinander hindudelnden Melodien von Gitarren, Klavier, Bass und Streichern aufgebaute Stück schließlich konsequenterweise in der strukturellen Abrissbirne aus 5/8, 3/4 und 4/4-Takt seinen vorläufigen Höhepunkt findet. Doch wer gedacht hat, jetzt könne man sich endlich in der Struktur zurecht finden, der wird von den drei betagten Herren erneut enttäuscht. Was folgt ist ein Gewitter aus unkontrolliertem Einschlagen auf die Bassgitarre, breit verzerrtem Gitarrenteppich, hyperaktivem Schlagzeug und schmerzverzerrtem Falsettgeschrei, das nach einem kurzen Abstecher zur nun fast sinnvoll klingenden Strophe erneut aufzieht und sich so oft wiederholt, dass wir vergeblich das Skip-Track-Hologram suchen, dass die Band aber über die Metadaten ihres Tonträgers unfairerweise ausgeblendet hat.

"isotop"
Als die Trackanzeige schließlich doch von 2 auf 3 springt, folgt für einige Sekunden die totale Stille, in der das gerade gehörte Chaos empfindlich widerhallt. Sobald die Gehörgänge aber ihre Suizidpläne aufgegeben haben, hört man nun einen seichteren Aufbau. Pizzicato-Streicher entführen den Hörer in den Soundtrack zum auditiven Horrorkurzfilm "isotop". Ein zäher Bass setzt ein, Gitarren, die sich im absichtlichen Detune unangenehm in den Vordergrund drängen...
Dann folgt das Thema, erst von den Streichern, dann von der E-Gitarre, die schließlich in ein schnelles Triolen-Muster über die dazwischenfunkenden Pizzicato-Synkopen fällt. Es wird schnell klar, dass die totale Ignoranz gegenüber dem eigentlichen Sinn des Wortes "Rhytmus" auf "Aerosol" gründlich gepflegt wird.
Immerhin stimmt hier der richtige Spannungsbogen. Etwa zur Hälfte des Stücks verabschieden sich die Streicher vom Zupfen und gehen in einer weiten Klangfläche auf, die das Thema in beunruhigende Höhen trägt, und schließlich Stück für Stück wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt.

"pripjat"
Das ist auch ganz gut so, denn es beginnt nun sehr ruhig und sehr langsam. Der Text, der eine Stad nach einer Atomkatastrophe beschreibt, nimmt deren Eigenschaften etwas zu ernst: Er ist sehr ruhig und sehr ereignislos. Dabei stimmt diesmal zumindes die Melodie, die den Text soweit überzeugend rüberbringt, dass man sjÁlfur fast glauben schenken möchte, dass er sich zum Songwriting in die Leere der Tschornobylzone zurück zieht. Ob man das gut findet... wer weiß.
Schließlich entwickelt sich der fast elfminütige Brocken doch noch, wechselt mehrfach wild die Tonarten und Stimmungen, und lässt den Hörer am postrockigen Ende mit der Frage zurück, wo eigentlich der rote Faden geblieben ist...

"majak"
Was man .kinetic... auf ihrem zweiten Album aber definitiv zugestehen muss: Sie haben ein Händchen dafür, vom einen Extrem ins andere zu springen. Während "pripjat" elf Minuten lang gefühlsduselige Klangcollage zu einem verständlichen Text liefert, dröhnt "majak" in nichtmal vier Minuten mit griffigen Hooks und kaum sinngebendem Text ins Ohr. Etwas glatter produziert, dann hätten wir hier das poppigste Lied, das die Gruppe bislang abgeliefert hat. Die Gitarren erinnern stark an den 90er-Jahre-Alternative-Rock der Smashing Pumpkins, der Gesang leider auch, aber immerhin zeigt die Band mal, dass sie durchaus auch strukturierte Lieder zustande bringen. Ob es an einem Aufhänger wie "majak" lag, dass das zweite Album Ewigkeiten auf sich warten ließ...? Man weiß es nicht...

"nuclear deer"
"majak" geht fast nahtlos in "nuclear deer" über. Die Härte bleibt, nimmt vielleicht noch etwas zu, das Tempo ebenfalls, doch den Popsong-Status wird dieser Track nicht erreichen. Insgesamt zwölf unterschiedliche Teile hat das Lied, viele davon wiederholen sich nicht ein einziges Mal. Viel Stoff, wenig wiederkehrende Struktur. Ein wirklicher Refrain wird dem Hörer gleich komplett vorenthalten.
Der ruhige Mittelteil und der minutenlange Wiederaufbau beschäftigen teilweise bis zu vier Gitarristen, Bass und Schlagzeug gleichzeitig, gleichen aber einer anfahrenden Walze, die das Ende völlig überrollt. Zurück bleibt eine Liedruine, die im Outtro in bester Jazzclubmanier so lange weitergesponnen wird, bis der Platz auf CD1 für die restlichen Stücke knapp zu werden drohte....

"care+careen"
Stichwort "Extreme"... Was folgt ist ein nur leicht von Schlagzeug und dezentem Bass getragener Akustikgitarrentrack, der beim reinen Zupfen bleibt. Textlich wieder etwas verständlicher, driftet das Lied aber von seiner Struktur nun wiederum in die etwas zu einfache Ecke. Betrachtet man den Text, wollte die Band offensichtlich eine Art Revolutionslied hinlegen, das aber für diese Zwecke deutlich zu müde ausfällt. sjÁlfur selbst bemerkte dazu: "Ich wollte ein Lied schaffen, dass eine Rebellion der unsichtbaren Trolle im Feenland an einem Montag Morgen zeigt, die vergeblich versuchen, mit heftigem Schädel vom Vorabend die Aufmerksamkeit der Presse auf sich zu lenken, deren Fotografien aber nur nicht unsichtbare Wesen zeigen." Wir wissen nicht, was genau er uns mit dieser Botschaft sagen wollte, aber sie beschreibt die Stimmung des Liedes ganz gut...

"the witness and grace"
Das durch einen Fehldruck der Promo fast als "The Will & Grace" betitelte Stück hat erneut einen nicht ganz zu leugnenden Soundtrack-Einschlag. Diesmal sind wir aber in der Kategorie Western gelandet. Ähnlich wie "care+careen" baut es zunächst auf Akustikgitarren auf, wird aber zum Burch in der Liedmitte hin deutlich lebhafter. Die Struktur besteht hier erneut eher aus Aneinanderreihungen, erinnert aber an "Glen" auf dem Debut der Band, auch wenn es wesentlich weniger erdig klingt, als das gesamte "Anamnesia"-Kostüm.

"gray"
Mit "gray" kehren die Härten zurück, die im Gegensatz zum Debut der Band bei "Aerosol" eine große Rolle spielen. Und es wird schrill. Toteffektierte Gitarren bedienen klirrend hoch endlose Delays, die eine nur unterbewusst wahrnehmbare Melodie über ein Grollen aus verzerrtem Bass, kratzenden Synthies und krudem Schlagzeug legen. Dazwischen bewegt sich der Gesang irgendwo zwischen Wahnsinn und Krankheit. Gegen Ende kehrt Ruhe ein in Gomorrah, nur die hohen Delays schleppen sich weiter. Es klingt, als versuche jemand, Melodien auf Hochspannungsleitungen zu spielen, Takte sind an dieser Stelle mal wieder vollkommen verschwunden...

"aerosol-flight / a smile pulses thru ashes"
Was dann folgt, ist die größte Frechheit des Albums. Da hatten wir uns gerade damit abgefunden, die restlichen Tracks in unstrukturiertem Effektbre zu schwimmen, da verbirgt sich ausgerechnet hinter dem Titel, der ein Zusammengewürfel verschiedener Parts vermuten lässt, das vielleicht direkteste Lied des Albums. Wir haben es mit drei Akustikgitarren zu tun, die klar und harmonisch zweieinhalb Minuten zu dezenten Sampling-Loops und noch dezenteren Streicherflächen spielen, und dabei eine musikalische Höhe erklimmen, die man so nicht erwartet hätte... und stilistisch auch überhaupt nicht auf das Album passt.

"trans-oceanic free radical"
Weiß noch jemand, was Nu-Metal ist - oder besser - war? Nach dem Ausflug ins Reich der Kammermusik dröhnen bei "trans-oceanic free radical" überproduzierte Gitarren zwischen pathetischer Fläche und stumpfem Staccato, elektronische Schmalspurbegleitung trägt die Strophe von einem fastforward-Part in den nächsten. Melodie wurde weggelassen, die wäre aber ohnehin im Soundstrudel untergegangen.

"evaporating the lakes"
Das zweite Marathon-Stück des Albums nimmt einen großen Sack voll Epik und mischt diesen mit einer Unmenge an Kitsch. "evaporating the lakes" beginnt ruhig, mit Gitarre und Flöte, und wechselt von da an immer wieder zwischen überschäumenden Gitarrenflächen und fast schon bescheiden zurückhaltenden Breaks. Die Lyrics singen dabei über den Gott der Seen und die Folgen des Calvinismus, und immer wieder scheint die Sonne zwischen den Zeilen. Gute Laune, die so gar nicht zur Band passt. Und viel zu viel Licht...

"samsaam"
Irgendwo zwischen Yann Tiersen, Kleinkindvokabular und fast so etwas wie Rhytmus bewegt sich "samsaam". Der Gesang ist grenzwertig, vielleicht weil man einem weit über Siebzigjährigen die kindliche Attitüde nicht mehr so richtig abnimmt. Die Streicher sind ganz versöhnlich, können aber das Kuddelmuddel des bisherigen Albums nicht ausreichend abdecken.

"land-end's got a nosebleed"
Etwas versöhnlich erreichen wir das Ende der ersten Hälfte von "Aerosol". Es dominiert wieder eine Akustikgitarre, der Gesang ist dezent zurückhaltend, begleitend bringt ein Akkordeon Shanty-Atmosphäre in die Angelegenheit... Das klingt noch nicht völlig frei vom übertriebenen künstlerischen Anspruch der Band, aber zumindest brauchen wir uns nicht wieder auf unkoordinierten Krach einstellen. Aber dies war auch erst der erste Teil des Albums, und wie uns der Text am Ende des Stücks unheilvoll prophezeit: "reboot the stigma"...

[...Teil 2 in der nächsten Ausgabe]

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